Interview
Prof. Dr. Geoffrey
Haig/ (Fotos: Prof. Dr. Geoffrey Haig) |
„Als ich in der
Türkei in den 80er Jahren mit dem Studium des Türkischen begann, war mir
ebenfalls nicht bewusst, dass es Millionen Menschen in der Türkei gibt, die
eine andere Muttersprache als das Türkische sprechen. Darüber wurde nicht
gesprochen, selbst nicht unter dort tätigen Sprachwissenschaftlern",
erklärt Prof. Dr. Geoffrey Haig, Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine
Sprachwissenschaft in Bamberg. Erst in den 1990er Jahren wurde Haig durch die
Bekanntschaft mit einem kurdischstämmigen Studenten allmählich auf die „anderen
Sprachen“ der Türkei neugierig. Seitdem beschäftigt er sich vor allem mit dem
Kurdischen, das zu den westiranischen Sprachen zählt und wie das Deutsche zur
indoeuropäischen Sprachfamilie gehört. Nach Prof. Dr. Haig sprechen „rund 20
Millionen Menschen in der Türkei, in Syrien, in Iran und dem Irak eine
kurdische Sprache, entweder Nord-, Zentral- oder Südkurdisch. Rund 700 000
Sprecher leben in Deutschland.“
Dr. Haig als Gast bei einer kurdischen Familie während seiner Feldforschung in Kurdistan/Westiran/2007 |
Laut Haig war vor
rund 100 Jahren das Gebiet Ostanatoliens von einem bunten Kultur-, Religions-
und Sprachenteppich bedeckt: unter anderem lebten Türken, Armenier, Aramäer und
Kurden dort über 1000 Jahre lang zusammen. Anfang des letzten Jahrhunderts
musste diese kulturelle Vielfalt einer nationalistisch geprägten
Vereinheitlichungspolitik weichen, zu deren Folgen vor allem ein dramatischer
Rückgang der Sprachenvielfalt in dieser Region zählt. Einige Sprachen sind
bereits fast gänzlich verschwunden. Das Kurdische konnte sich auf Grund der
Größe der Sprachgemeinschaft halten, seine Existenz aber wurde im offiziellen
Diskurs jahrzehntelang geleugnet und sein Gebrauch unterdrückt.
Yaresan/Kurdistan/west Iran
Sein
Forschungsgegenstand stellt Haig vor Herausforderungen. Die wissenschaftliche
Beschäftigung mit dem Kurdischen ist aufgrund historischer und politischer
Gegebenheiten emotional aufgeladen. Gerade deshalb ist es Haig besonders
wichtig, sich möglichst objektiv dem Untersuchungsgegenstand zu nähern und sich
von keiner der politischen und gesellschaftlichen Strömungen vereinnahmen zu
lassen. Denn gerade in den letzten 10 Jahren ist die kurdische Sprache vor
allem in der Türkei zu einem Politikum geworden – umso leichter können
wissenschaftliche Meinungen aus dem Kontext gerissen und instrumentalisiert
werden. Als typisches Beispiel ist die Frage nach der Herkunft des Kurdischen
zu nennen. Kurdische Intellektuelle und Politiker berufen sich auf eine
einheitliche Herkunftstheorie und sehen in dem antiken Volk der Meder die
Vorfahren der heutigen Kurden, Vertreter des türkischen Staates hingegen
betonen die ungewisse Herkunft und die angeblich fehlende Einheit der
kurdischen Volksgruppe. Wie Haig erläutert, gibt es natürlich keine einfache
Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Kurdischen. Hier tut eine
differenzierte wissenschaftliche Sichtweise not, die aber leider oft schwer
vermittelbar ist und von beiden Seiten kaum zur Kenntnis genommen wird.
Allmählich jedoch etabliere sich eine wissenschaftlich fundierte Kurdologie,
die jenseits der ideologischen Auseinandersetzungen arbeitet und sich
international positioniert, gibt sich Haig optimistisch.
Gebetshaus in Yaresan/Kurdistan/Westiran/2007 |
Wissenschaftlich
misst Haig der Herkunftsfrage ohnehin weniger Bedeutung bei: „Mich
interessieren andere und verhältnismäßig weniger erforschte Fragestellungen wie
vor allem der Sprachkontakt zu anderen Sprachen, der damit verbundene
Sprachwandel sowie Fragen nach den Auswirkungen des soziokulturellen Kontextes
auf die Sprache“, erklärt er. So bemerke er beispielsweise, dass sich
gegenwärtig zwei entgegengesetzte Tendenzen beobachten lassen: Zum einen hat
die repressive staatliche Sprachpolitik zur Folge, dass immer weniger Kurden
ihre Sprache vollständig auf natürliche Weise im Kindesalter erwerben und die
Alltagssprache der heute unter Dreißigjährigen massive „Vereinfachungen“
aufweist. Zum anderen aber hat das neu erwachte Selbstbewusstsein und die
Politisierung der Kurden dazu geführt, dass eine neue kurdische Schriftsprache
auf Internetplattformen und über Satellitenfernsehen etabliert und propagiert
wird, die alle Teile der kurdischsprachigen Bevölkerung erreicht. In diesem
Spannungsfeld zwischen der Vereinfachung einerseits und dem forcierten Ausbau
einer standardisierten Form des Kurdischen andererseits ergeben sich
interessante Fragen zur Dynamik von Sprachwandel.
Kurdistan/West Iran |
Dr. Geoffrey Haig |
Interview
Reşad Ozkan sprach mit Prof. Dr. Geoffrey Haig,
Sprachwissenschaftler an der Universität Bamberg/Institut für Orientalistik, über die Erforschung der kurdischen Sprache und die Gefahr,
dass die kurdische Sprache verschwinden könnte.
Herr Professor welche zerstörerischen
Einflüsse haben die Assimilations- und Vernichtungspolitik auf die kurdische Sprache in den vier Teilen Kurdistans?
Geoffrey Haig: Die
Assimilationspolitik ist in den vier Teilen Kurdistans nicht überall gleich
verlaufen. Im Iran und Iraq konnten die Kurden – wenn auch unter sehr
schwierigen Bedingungen – ihre Sprache wenigstens weiterhin verwenden. Im Iraq
beispielsweise konnte sich unter britischer Besatzung eine schriftliche Form
des Sorani weiterentwickeln; in der Türkei hingegen wurde die Existenz der
Sprache geleugnet und der Gebrauch gezielt unterdrückt; diese Maßnahmen wurden
durch die massive Militärpräsenz im Kurdengebiet seit 30 Jahren dann weiter
verschärft. Die Folgen der staatlichen Sprachenpolitik haben sich besonders
drastisch unter den Kurden der Türkei ausgewirkt: hier wächst faktisch eine
komplette Generation von Kurden heran ohne dass sie vollständige Kompetenz in
ihrer Muttersprache erwirbt.
Woher kommt die kurdische Sprache?
Geoffrey Haig: Eine sinnlose Frage –
genauso sinnlos wie beispielsweise die Frage nach der Herkunft „der Engländer“,
oder „der Türken“ oder „der Araber“. Nehmen wir einfach mal die heutigen
Engländer: zum Teil stammen sie aus der alten, vorgermanischen Bevölkerung Großbritanniens;
zum Teil aus Einwanderern aus Skandinavien (Wikinger); zum Teil aus der
ehemaligen römischen Besatzung, zum Teil aus Normannen, die England vor 1000
Jahren erobert haben … welchen Sinn hat es, nach „der Herkunft“ der Engländer
zu fragen? Ebenso sinnlos ist die Suche nach „der Herkunft“ des Kurdischen. An
derartigen Spekulationen möchte ich mich nicht beteiligen.
Ist es ohne Sprache und Kultur möglich,
eine Nation zu werden?
Geoffrey Haig: Möglich ist vieles: die
Schotten beispielsweise behaupten, sie hätten eine eigene Nation/Kultur; ihre
Sprache ist jedoch eine Varietät des Englischen. In der Schweiz leben
(mindestens) vier Sprachgemeinschaften zusammen und bilden zusammen die
Schweizer Nation. In Jugoslawien hat man früher „eine Nation, eine Sprache“
gehabt, jetzt nach der politischen Teilung spricht man von Serbisch und
Kroatisch – obwohl die beiden Sprachen praktisch identisch sind, usw. Dieser
Themenkomplex lässt sich von dem rein politisch / völkerrechtlich definierten
Begriff des Staates nicht trennen. „Sprache“, „Kultur“, „Nation“ sind
Idealisierungen, die sich in den seltensten Fällen klar definieren lassen. Erst
der politisch/völkerrechtliche Status der Staatlichkeit schafft die Illusion einer
Einheit.
Ist die kurdische Sprache Opfer der Geopolitik?
Geoffrey Haig: Die fehlende politische
Einheit ist ganz klar das Ergebnis geostrategischer Überlegungen. Dass
beispielsweise Iraqi Kurdistan kein eigener Staat ist, liegt an dem Widerstand der
Nachbarstaaten und deren Einfluss in den entsprechenden völkerrechtlichen
Gremien. Es reicht schon, wenn ein Staat wie die Türkei ein Veto einlegt; dann
würde eine kurdische Staatsgründung international nicht anerkannt (vgl.
beispielsweise den russischen Widerstand gegen ein unabhängiges Kosovo usw.).
Damit ist auch der heutige Zustand des Kurdischen ebenfalls ein Ergebnis
internationaler Politik.
Haben Sie Kontakte mit kurdischen
Sprachwissenschaftlern bzw. mit sprachwissenschaftlichen Fakultäten in der
Autonomen Region Kurdistan/Irak?
Geoffrey Haig: Ich habe mehrfach
versucht, Verbindungen zu den entsprechenden Fakultäten in der Autonomen Region
Kurdistans aufzubauen, aber bisher fand keine nennenswerte Zusammenarbeit
statt. Ich arbeite in Deutschland mit vielen Personen zusammen und baue die
Kontakte international weiter auf; das ist ein langsamer Prozess, aber ich bin
sehr optimistisch.
Wie sieht die Zukunft der kurdischen
Sprache aus, wenn die Kurden selber nicht Kurdisch sprechen (besonders im
türkischen Teil)?
Geoffrey Haig: Um eine Sprache vollständig zu erwerben,
müssen Kinder in der Sprachgemeinschaft diese Sprache im Kleinkindalter sehr
intensiv erfahren, d.h. ab der Geburt bis mindestens 6/7 Jahre. Nur so werden
alle Feinheiten der Sprache wirklich erworben und gefestigt. Das könnte
natürlich neben dem Erwerb von weiteren Sprachen auch geschehen, aber sie
müssten Kurdisch eben ausreichend und unter vielen verschiedenen Bedingungen
hören und aktiv verwenden. Es würde beispielsweise nicht ausreichen, wenn sie
Kurdisch nur von ihrer Großmutter zu Hause hören. Wer so aufwächst, erwirbt
eben keine vollständige Kompetenz in der Sprache. Und später, also im
Erwachsenenalter, lässt sich das nie wieder nachholen. Es ist deshalb
unerlässlich, dass kurdische Kinder so viel wie möglich mit Kurdisch
aufwachsen. Leider hat der türkische Staat alles unternommen, um genau die
frühkindliche Bindung an der Muttersprache zu zerstören. So wächst in der
Türkei – wie oben erwähnt – fast eine ganze Generation heran (die heutigen
unter-30-Jährigen), die viele Feinheiten ihrer Sprache nicht beherrschen. Zwar
beschäftigen sich viele dieser Menschen später mit ihrer Sprache und erlernen
sie gewissermaßen „neu“ im Erwachsenenalter“, aber ihre Sprache wirkt hölzern,
steif, und ihre Syntax ist offensichtlich stark vom Türkischen beeinflusst. Man
braucht nur einen heutigen Nachrichtensprecher aus der Türkei zu hören und mit
Sprechern aus irakisch-Kurdistan zu vergleichen. In der Türkei wird, soweit ich
es beurteilen kann, nur noch auf dem Lande und in wenigen Städten im Osten
(Bazit, Shemzinan) Kurdisch wirklich aktiv und regelmäßig unter jungen Menschen
verwendet. Das ist eine Tragödie, die aber anscheinend viele Kurden mehr oder
weniger resigniert einfach akzeptiert haben („em asimile bûn, em chi bikin …“
höre ich von Kurden aus der Türkei immer wieder). Tatsache ist: Die große Masse
der kurdischen Bevölkerung in der Türkei gibt ihre Sprache an die nächste
Generation nicht weiter. Wenn sich daran nichts ändert, wird es in 50 Jahren
wirklich kompetente Sprecher des Kurdischen in der Türkei kaum noch geben.
Umgriffe_Kurdistans / Quelle:Wikimedia |
Interview mit Prof. Dr. Geoffrey Haig,
Sprachwissenschaftler an der Universität Bamberg/Institut für Orientalistik.
Sprachwissenschaftler an der Universität Bamberg/Institut für Orientalistik.
Wer ist er?
Geoffrey Haig, seit 2010 Professor für Allgemeine Sprachwissenschaft in Bamberg/ (Foto: Nils Ebert/Uni. Bamberg) |
Die erste Reise in die Türkei und der erste Kontakt mit dem Kurdischen >>>
http://www.uni-bamberg.de/kommunikation/news/artikel/portraet-haig/
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Veröffentlichte Texte und Publikationen
Prof. Dr. Geoffrey Haig, Sprachwissenschaftler an der Universität
Bamberg/Institut für Orientalistik.
With Stefan Conermann (eds.) 2004. Die Kurden: Studien zu ihrer Sprache, Geschichte und Kultur. Hamburg: EB-Verlag.
2008. Alignment change in Iranian languages: A Construction Grammar approach. Mouton de Gruyter.
With Parwin Mahmudweyssi, Denise Bailey and Ludwig Paul. In print. The Gorani language of Gawraju, a village of West Iran. Grammar, texts and lexicon. Wiesbaden: Reichert.
1998. On the interaction of morphological and syntactic ergativity: Lessons from Kurdish. Lingua 105, 149-173.
2001. Linguistic diffusion in modern East Anatolia: from top to bottom. In: Aikhenvald, A. and Dixon, R. (eds.) Areal diffusion and genetic inheritance: Problems in comparative linguistics. Oxford: Oxford University Press, 195-224.
With L. Paul. 2001. Kurmanjî Kurdish. In: Garry, J. and Rubino, C. (eds.) An encyclopaedia of the World's major languages, past and present. New York: Wilson, 398-403.
With Y. Matras. 2002. Kurdish linguistics: A brief overview. Sprachtypologie und Universalienforschung/ Language typology and universals 55(1): 3-14.
2002. Complex predicates in Kurdish: Argument sharing, incorporation, or what? Sprachtypologie und Universalienforschung/ Language typology and universals 55(1): 25-48.
2004. The invisibilisation of Kurdish: the other side of language planning in Turkey. In: Conermann, S. and Haig, G. (eds.) Die Kurden: Studien zu ihrer Sprache, Geschichte und Kultur. Hamburg: EB-Verlag, 121-150.
2007. Grammatical borrowing in Kurdish (Northern Group). In: Matras, Y. and Sakel, J. (eds.) Grammatical borrowing in cross-linguistic perspective. Berlin: Mouton, 165-184.
Forthcoming: Why ergativity in Iranian did not originate from an agented passive. In: Lehmann, C., Skopeteas, S. and Marschke, C. (eds.) The evolution of syntactic relations. Berlin: Mouton.
With P. Mahmudweyssi. 2009. The typology of modality in some West Iranian languages. In: Allison, C., Joisten-Pruschke, A. and Wendtland, A. (eds.) From Daena to Dîn. Religion, Kultur und Sprache in der iranischen Welt. Festschrift für Philip Kreyenbroek zum 60. Geburtstag. Wiesbaden: Harrassowitz, 41-52.
With Stefan Conermann (eds.) 2004. Die Kurden: Studien zu ihrer Sprache, Geschichte und Kultur. Hamburg: EB-Verlag.
2008. Alignment change in Iranian languages: A Construction Grammar approach. Mouton de Gruyter.
With Parwin Mahmudweyssi, Denise Bailey and Ludwig Paul. In print. The Gorani language of Gawraju, a village of West Iran. Grammar, texts and lexicon. Wiesbaden: Reichert.
1998. On the interaction of morphological and syntactic ergativity: Lessons from Kurdish. Lingua 105, 149-173.
2001. Linguistic diffusion in modern East Anatolia: from top to bottom. In: Aikhenvald, A. and Dixon, R. (eds.) Areal diffusion and genetic inheritance: Problems in comparative linguistics. Oxford: Oxford University Press, 195-224.
With L. Paul. 2001. Kurmanjî Kurdish. In: Garry, J. and Rubino, C. (eds.) An encyclopaedia of the World's major languages, past and present. New York: Wilson, 398-403.
With Y. Matras. 2002. Kurdish linguistics: A brief overview. Sprachtypologie und Universalienforschung/ Language typology and universals 55(1): 3-14.
2002. Complex predicates in Kurdish: Argument sharing, incorporation, or what? Sprachtypologie und Universalienforschung/ Language typology and universals 55(1): 25-48.
2004. The invisibilisation of Kurdish: the other side of language planning in Turkey. In: Conermann, S. and Haig, G. (eds.) Die Kurden: Studien zu ihrer Sprache, Geschichte und Kultur. Hamburg: EB-Verlag, 121-150.
2007. Grammatical borrowing in Kurdish (Northern Group). In: Matras, Y. and Sakel, J. (eds.) Grammatical borrowing in cross-linguistic perspective. Berlin: Mouton, 165-184.
Forthcoming: Why ergativity in Iranian did not originate from an agented passive. In: Lehmann, C., Skopeteas, S. and Marschke, C. (eds.) The evolution of syntactic relations. Berlin: Mouton.
With P. Mahmudweyssi. 2009. The typology of modality in some West Iranian languages. In: Allison, C., Joisten-Pruschke, A. and Wendtland, A. (eds.) From Daena to Dîn. Religion, Kultur und Sprache in der iranischen Welt. Festschrift für Philip Kreyenbroek zum 60. Geburtstag. Wiesbaden: Harrassowitz, 41-52.