Orient Experte Prof. Dr. Udo Steinbach:
Die Türkei ist in eine Staatskrise geraten
Der Orient- und Kurdistanexperte Professor Dr. Udo Steinbach beantwortete unsere Fragen anlässlich der Reise des Bundesaußenministers Guido Westerwelle in die Türkei zum EU-Beitritt der Türkei, zu regionalen Machtambitionen der Türken in der Region und zu den bevorstehenden Wahlen im Irak. Mit Professor Steinbach sprach Rûdaw Korrespondent Reşad Özkan
Außenminister Guido Westerwelle sagte zum Thema EU-Beitritt der Türkei:"Die Türkei hat einen Anspruch auf faire Verhandlungen und einen zuverlässigen Verhandlungspartner". Er spricht aber nicht von einer Vollmitgliedschaft in der EU. Ist Deutschland wirklich für eine türkische Aufnahme in die EU? Welche Interessen werden hier verfolgt?
Steinbach : Die CDU, aber auch die CSU, ist klar gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU und hält nach wie vor an der privilegierten Partnerschaft fest. Die FDP hingegen tendiert dazu, und das hat Herr Westerwelle auch zum Ausdruck gebracht, zunächst einmal weiter zu verhandeln und zu den Verträgen zu stehen. Laut Westerwelle geschieht dies „mit offenem Ausgang“, d.h. wenn die Verhandlungen positiv ausgehen, dann hat die Türkei die Perspektive auf eine Vollmitgliedschaft. Das kann er natürlich gegenwärtig bei seinem Besuch in Ankara nicht so deutlich sagen, weil es so nicht im Koalitionsprotokoll steht. Ich habe aber den Eindruck gewonnen, dass Herr Westerwelle im Hinblick auf die Türkei auch sehr stark strategisch denkt und dass er von daher durchaus dazu tendiert, auch die Vollmitgliedschaft zu akzeptieren.
Kommt es dabei innerhalb der schwarz-gelben Koalition zu Konflikten, besonders mit der CSU?
Steinbach : Sicherlich. Das wird in den nächsten Wochen innerhalb der Regierung weiterhin eine große Streitfrage werden. Die CSU hat ja gerade bei ihrer Klausurtagung in Wildbach-Kreuth gesagt, dass die Türkei auf keinen Fall Vollmitglied werden darf und hat sogar versucht, dem Außenminister hier eine Marschrichtung vorzugeben. Er solle keine Geheimabsprachen treffen. Die CSU wolle hinterher nicht die Scherben zusammenkehren müssen. Hier wird es also zu schärferen Konfrontationen innerhalb der Koalition selbst kommen.
Warum kommen die seit 2005 laufenden Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei bislang nur schleppend voran?
Steinbach : Das hat eine ganze Reihe von Gründen. Punkt 1: Zum einen war der Verhandlungsoptimismus, der Enthusiasmus, diese Verhandlungen zu führen, ohnehin nicht sehr stark. Punkt 2: Die Türkei ist in eine Staatskrise geraten, wie wir wissen. Es gab Auseinandersetzungen mit dem Militär, mit dem Verfassungsgericht. Diese ganzen Dinge haben die Aufmerksamkeit des Ministerpräsidenten natürlich auch von den Reformen abgelenkt, so dass hier tatsächlich eine Stagnation auch auf türkischer Seite eingetreten ist. Und solange es auf türkischer Seite nicht vorangegangen ist, hat auch die Europäische Union keine Veranlassung gesehen, ihrerseits weiterzugehen. Hinzu kommt, und das ist der dritte Punkt, die Zypern-Frage. Die Tatsache, dass die türkische Regierung eben nicht akzeptiert, dass Zypern Teil des Freihandelsabkommens wird, d.h. dass zypriotische Flugzeuge oder Schiffe in türkischen Häfen und auf türkischen Flughäfen landen können. Das kommt alles zusammen und es erklärt, warum die Verhandlungen mit keiner hohen Geschwindigkeit weitergegangen sind. Aber wir müssen festhalten, dass sie trotzdem voranschreiten und dass auch in diesem Jahr wieder mehrere Kapitel der Beitrittsverhandlungen aufgeschlagen werden.
Warum wird nicht die Kurden- sondern die Zypern-Frage als "Schlüssel" für EU-Beitrittsverhandlungen genannt?
Steinbach : Auch die Kurden-Frage wird in der Europäischen Union als ein politisches Problem der Türkei gesehen, doch tut sich die EU im Augenblick sehr schwer, sich hier einzumischen. Auf der einen Seite ist da der Ministerpräsident Erdogan: Der Bundesaußenminister hat ihn ja ausdrücklich für seine Bemühungen um Demokratieförderung gelobt. Das ist aber nur die eine Seite. Auf der anderen Seite haben wir das Verfassungsgericht, das die kurdische Partei DTP verboten hat. Hier tut sich die Europäische Union natürlich sehr schwer, drängt aber auch auf die Einhaltung der rechtsstaatlichen Prinzipien. Die EU hat sich also in der kurdischen Frage nicht sehr stark gemacht, weil diese kurdische Frage eben auch in der Türkei umstritten ist, weil sie kontrovers ist, wobei man sagen muss, dass der Ministerpräsident ja in den letzten Monaten auch ganz erhebliche Schritte zumindest versucht hat. Die Zypern-Frage hingegen ist eine rein legale Frage. Da gibt es ganz klare Vorgaben. Zypern ist seit 2004 Mitglied der Europäischen Union und hat damit ein Recht, Mitglied der Freihandelszone zu sein und dagegen stellt sich die türkische Regierung. Es ist für die EU viel leichter, die zypriotische Karte zu spielen als die kurdische Karte, die extrem kompliziert ist und innenpolitisch in der Türkei im Augenblick extrem kontrovers.
Es heißt, die Türkei gilt bei regionalen Konflikten aufgrund ihrer Brückenfunktion als wichtige Vermittlerin zwischen Europa und dem mittleren Osten? Wie schätzen Sie dies ein?
Steinbach : Also ich schätze das sehr hoch ein. Ich glaube, dass die Türkei, gerade auch unter Davudoglu , dem neuen Außenminister, ganz erhebliche Schritte unternommen hat, zu einer Stabilisierung des Umfelds im Nahen Osten und im Kaukasus beizutragen. Das halte ich für extrem wichtig und das hat ja der Bundesaußenminister in seinem Interview in Ankara auch gewürdigt. Und ich glaube, das ist ein ganz wichtiges Argument, um auch in Europa die Überzeugung zu stärken, dass die Türkei ein wichtiges Land ist, das am Ende in die Europäische Union gehört.
Die Türkei erstrebt, eine Regionalmacht im Vorderen Orient zu sein. Sie versucht, mit Iran, Irak und Syrien neue Allianzen zu knüpfen und ist gleichzeitig vehement gegen die politisch-nationalen Rechte der Kurden. Sind diese Machtkonstellationen, die sich auch gegen Israel wenden, mit der Außenpolitik der EU und der USA vereinbar?
Steinbach : Das ist sicherlich mit wenigen Sätzen gar nicht zu sagen. Auf der einen Seite stimmt es, dass die Türkei versucht, die Rolle einer Brücke zu spielen, einer starken Regionalmacht. Was die Kurdenpolitik im Inneren betrifft, so ist natürlich die ganze Sache noch nicht so weit, wie sie sein sollte. Wir sollten jedoch nicht verkennen, dass Herr Erdogan in den letzten Monaten wichtige Initiativen zumindest versucht hat. Aber die Kurden wissen besser als ich, dass es gegen diese Versuche einen erheblichen Widerstand ganz unterschiedlicher Kräfte gegeben hat und dieser Widerstand zunächst einmal dazu geführt hat, dass die DTP verboten wurde. Wenn wir jetzt zu Israel kommen, so muss ich sagen, dass die Haltung der türkischen Politik, eine Haltung ist, die versucht, das Völkerrecht und die Humanität in den Vordergrund zu stellen. Natürlich kann es sein, dass dies mit der europäischen Politik kollidiert. Aber ich persönlich stehe auf der türkischen Seite und sage: Solange die Dinge in Gaza sind, wie sie sind, kann die Türkei mit Israel keine Beziehungen durchführen. Und solange Israel ein Staat ist, der das Völkerrecht verletzt, muss es Kräfte geben, muss es Regierungen geben, die das auch beim Namen nennen. Und wenn das die Europäische Union nicht tut, dann finde ich das immerhin bemerkenswert, dass die türkische Regierung es tut.
Welche Rolle spielt der Atomstreit mit dem Iran für die türkisch-europäischen Beziehungen? Gibt es Indizien dafür, dass auch die Türkei anstrebt, eine Atommacht zu werden?
Steinbach : Diese Indizien gibt es noch nicht. Es sei denn, ich hätte etwas überlesen oder überhört. Aber was natürlich im Augenblick immer noch im Raum steht, ist eine mögliche türkische Vermittlerrolle. Es ist ja immer noch der Vorschlag im Raum, dass möglicherweise ein Teil des nuklearen Brennstoffs von Iran an die Türkei oder über die Türkei zur Weiterverarbeitung weitergeleitet wird. Also die Türkei ist zumindest noch im Gespräch als Partner der möglicherweise den Streit deeskalieren könnte.
Im kommenden März werden die nationalen Wahlen im Irak abgehalten. Die Kurden bestehen darauf, dass Kerkuk ein Teil Kurdistans ist, doch die Araber und die Nachbarstaaten sehen darin eine „kurdische Gefahr“.
Wie sehen Sie die Zukunft dieses Problems?
Steht ein Bürgerkrieg bevor?
Welche Rolle spielen die USA in diesem Zusammenhang?
Steinbach : Wenn die Kurden daran festhalten, dass Kerkuk ein Teil des kurdischen föderativen Staates sein wird, dann ist der nächste Konflikt vorprogrammiert. Kein Araber und natürlich auch kein Nachbar wird akzeptieren, dass Kerkuk ein Teil des kurdischen Teils des Irak wird. Da liegt eine ganz große Gefahr für die Existenz der konföderalen oder föderalen Einheit Kurdistans: Wenn die Kurden im Irak ihre Forderungen überziehen, werden sie sich früher oder später auf der Verliererseite wiederfinden. Ich glaube, dass sie jetzt sehr viel erreicht haben, aber um noch mehr zu erreichen, müssen sie sehr behutsam spielen. Sie müssen ihre Forderungen sehr sorgfältig kontrollieren und sie müssen sehr sorgfältig sehen, wie weit sie gehen können. Nicht nur in Bezug auf die Regierung in Bagdad, sondern auch in Bezug auf die Regierungen in Ankara und in Teheran. Auch die Amerikaner haben natürlich ein übergeordnetes Interesse an der Region. Aber auch die Amerikaner, die im Augenblick noch sehr enge Beziehungen zur kurdischen Administration haben im Irak, werden, wenn die Kurden ihre Karten überziehen, auf der kurdischen Seite nicht mehr mitspielen können.
München, 08.01.2010
by Reşad Özkan
Orient Experte Prof. Dr. Udo Steinbach:
"Die Türkei ist in eine Staatskrise geraten"
Kurdische Version lesen
Prof. Dr. Udo Steinbach:
Tirkiye Ketiye Krîzeke Siyasî
............................
Udo Steinbach
Geboren 1943 in Pethau/Zittau, aufgewachsen in Cunewalde bei Bautzen und in Düsseldorf
1963 bis 1965 Wehrdienst
Reserveübungen in der Attachee-Reserve; zuletzt als Oberst d.R. an der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Almaty (Kasachstan)
Studium der Islamkunde (d.h. Studium der Sprachen, Geschichte, Religion sowie Kultur- und Literaturgeschichte des islamischen Raumes arabischer, persischer und türkischer Sprache) und Klassischen Philologie an den Universitäten Freiburg i.Br. und Basel 1965 bis 1970
Promotion zum Dr. phil 1970 bei Professor Dr. Hans-Robert Roemer, Freiburg i.B.
Titel der Arbeit: Dhat al-Himma - Kulturgeschichtliche Untersuchungen zu einem arabischen Volksroman
(veröffentlicht Wiesbaden: Verlag Franz Steiner, 1973)
1971 bis 1974 Leiter des Nahostreferats bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP, Think-Tank der Bundesregierung) damals Ebenhausen bei München
Leiter der türkischen Redaktion der Deutschen Welle 1975
Direktor des Deutschen Orient-Instituts, Hamburg 1976 bis 2006
Seit 1991 Honorarprofessor an der Universität Hamburg
Direktor des GIGA-Instituts für Nahoststudien 2007,
Pensionierung seit 1.1.2008
Gegenwärtig: Lehre am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien an der Philipps-Universität Marburg
Die Türkei ist in eine Staatskrise geraten
Der Orient- und Kurdistanexperte Professor Dr. Udo Steinbach beantwortete unsere Fragen anlässlich der Reise des Bundesaußenministers Guido Westerwelle in die Türkei zum EU-Beitritt der Türkei, zu regionalen Machtambitionen der Türken in der Region und zu den bevorstehenden Wahlen im Irak. Mit Professor Steinbach sprach Rûdaw Korrespondent Reşad Özkan
Außenminister Guido Westerwelle sagte zum Thema EU-Beitritt der Türkei:"Die Türkei hat einen Anspruch auf faire Verhandlungen und einen zuverlässigen Verhandlungspartner". Er spricht aber nicht von einer Vollmitgliedschaft in der EU. Ist Deutschland wirklich für eine türkische Aufnahme in die EU? Welche Interessen werden hier verfolgt?
Steinbach : Die CDU, aber auch die CSU, ist klar gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU und hält nach wie vor an der privilegierten Partnerschaft fest. Die FDP hingegen tendiert dazu, und das hat Herr Westerwelle auch zum Ausdruck gebracht, zunächst einmal weiter zu verhandeln und zu den Verträgen zu stehen. Laut Westerwelle geschieht dies „mit offenem Ausgang“, d.h. wenn die Verhandlungen positiv ausgehen, dann hat die Türkei die Perspektive auf eine Vollmitgliedschaft. Das kann er natürlich gegenwärtig bei seinem Besuch in Ankara nicht so deutlich sagen, weil es so nicht im Koalitionsprotokoll steht. Ich habe aber den Eindruck gewonnen, dass Herr Westerwelle im Hinblick auf die Türkei auch sehr stark strategisch denkt und dass er von daher durchaus dazu tendiert, auch die Vollmitgliedschaft zu akzeptieren.
Kommt es dabei innerhalb der schwarz-gelben Koalition zu Konflikten, besonders mit der CSU?
Steinbach : Sicherlich. Das wird in den nächsten Wochen innerhalb der Regierung weiterhin eine große Streitfrage werden. Die CSU hat ja gerade bei ihrer Klausurtagung in Wildbach-Kreuth gesagt, dass die Türkei auf keinen Fall Vollmitglied werden darf und hat sogar versucht, dem Außenminister hier eine Marschrichtung vorzugeben. Er solle keine Geheimabsprachen treffen. Die CSU wolle hinterher nicht die Scherben zusammenkehren müssen. Hier wird es also zu schärferen Konfrontationen innerhalb der Koalition selbst kommen.
Warum kommen die seit 2005 laufenden Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei bislang nur schleppend voran?
Steinbach : Das hat eine ganze Reihe von Gründen. Punkt 1: Zum einen war der Verhandlungsoptimismus, der Enthusiasmus, diese Verhandlungen zu führen, ohnehin nicht sehr stark. Punkt 2: Die Türkei ist in eine Staatskrise geraten, wie wir wissen. Es gab Auseinandersetzungen mit dem Militär, mit dem Verfassungsgericht. Diese ganzen Dinge haben die Aufmerksamkeit des Ministerpräsidenten natürlich auch von den Reformen abgelenkt, so dass hier tatsächlich eine Stagnation auch auf türkischer Seite eingetreten ist. Und solange es auf türkischer Seite nicht vorangegangen ist, hat auch die Europäische Union keine Veranlassung gesehen, ihrerseits weiterzugehen. Hinzu kommt, und das ist der dritte Punkt, die Zypern-Frage. Die Tatsache, dass die türkische Regierung eben nicht akzeptiert, dass Zypern Teil des Freihandelsabkommens wird, d.h. dass zypriotische Flugzeuge oder Schiffe in türkischen Häfen und auf türkischen Flughäfen landen können. Das kommt alles zusammen und es erklärt, warum die Verhandlungen mit keiner hohen Geschwindigkeit weitergegangen sind. Aber wir müssen festhalten, dass sie trotzdem voranschreiten und dass auch in diesem Jahr wieder mehrere Kapitel der Beitrittsverhandlungen aufgeschlagen werden.
Warum wird nicht die Kurden- sondern die Zypern-Frage als "Schlüssel" für EU-Beitrittsverhandlungen genannt?
Steinbach : Auch die Kurden-Frage wird in der Europäischen Union als ein politisches Problem der Türkei gesehen, doch tut sich die EU im Augenblick sehr schwer, sich hier einzumischen. Auf der einen Seite ist da der Ministerpräsident Erdogan: Der Bundesaußenminister hat ihn ja ausdrücklich für seine Bemühungen um Demokratieförderung gelobt. Das ist aber nur die eine Seite. Auf der anderen Seite haben wir das Verfassungsgericht, das die kurdische Partei DTP verboten hat. Hier tut sich die Europäische Union natürlich sehr schwer, drängt aber auch auf die Einhaltung der rechtsstaatlichen Prinzipien. Die EU hat sich also in der kurdischen Frage nicht sehr stark gemacht, weil diese kurdische Frage eben auch in der Türkei umstritten ist, weil sie kontrovers ist, wobei man sagen muss, dass der Ministerpräsident ja in den letzten Monaten auch ganz erhebliche Schritte zumindest versucht hat. Die Zypern-Frage hingegen ist eine rein legale Frage. Da gibt es ganz klare Vorgaben. Zypern ist seit 2004 Mitglied der Europäischen Union und hat damit ein Recht, Mitglied der Freihandelszone zu sein und dagegen stellt sich die türkische Regierung. Es ist für die EU viel leichter, die zypriotische Karte zu spielen als die kurdische Karte, die extrem kompliziert ist und innenpolitisch in der Türkei im Augenblick extrem kontrovers.
Es heißt, die Türkei gilt bei regionalen Konflikten aufgrund ihrer Brückenfunktion als wichtige Vermittlerin zwischen Europa und dem mittleren Osten? Wie schätzen Sie dies ein?
Steinbach : Also ich schätze das sehr hoch ein. Ich glaube, dass die Türkei, gerade auch unter Davudoglu , dem neuen Außenminister, ganz erhebliche Schritte unternommen hat, zu einer Stabilisierung des Umfelds im Nahen Osten und im Kaukasus beizutragen. Das halte ich für extrem wichtig und das hat ja der Bundesaußenminister in seinem Interview in Ankara auch gewürdigt. Und ich glaube, das ist ein ganz wichtiges Argument, um auch in Europa die Überzeugung zu stärken, dass die Türkei ein wichtiges Land ist, das am Ende in die Europäische Union gehört.
Die Türkei erstrebt, eine Regionalmacht im Vorderen Orient zu sein. Sie versucht, mit Iran, Irak und Syrien neue Allianzen zu knüpfen und ist gleichzeitig vehement gegen die politisch-nationalen Rechte der Kurden. Sind diese Machtkonstellationen, die sich auch gegen Israel wenden, mit der Außenpolitik der EU und der USA vereinbar?
Steinbach : Das ist sicherlich mit wenigen Sätzen gar nicht zu sagen. Auf der einen Seite stimmt es, dass die Türkei versucht, die Rolle einer Brücke zu spielen, einer starken Regionalmacht. Was die Kurdenpolitik im Inneren betrifft, so ist natürlich die ganze Sache noch nicht so weit, wie sie sein sollte. Wir sollten jedoch nicht verkennen, dass Herr Erdogan in den letzten Monaten wichtige Initiativen zumindest versucht hat. Aber die Kurden wissen besser als ich, dass es gegen diese Versuche einen erheblichen Widerstand ganz unterschiedlicher Kräfte gegeben hat und dieser Widerstand zunächst einmal dazu geführt hat, dass die DTP verboten wurde. Wenn wir jetzt zu Israel kommen, so muss ich sagen, dass die Haltung der türkischen Politik, eine Haltung ist, die versucht, das Völkerrecht und die Humanität in den Vordergrund zu stellen. Natürlich kann es sein, dass dies mit der europäischen Politik kollidiert. Aber ich persönlich stehe auf der türkischen Seite und sage: Solange die Dinge in Gaza sind, wie sie sind, kann die Türkei mit Israel keine Beziehungen durchführen. Und solange Israel ein Staat ist, der das Völkerrecht verletzt, muss es Kräfte geben, muss es Regierungen geben, die das auch beim Namen nennen. Und wenn das die Europäische Union nicht tut, dann finde ich das immerhin bemerkenswert, dass die türkische Regierung es tut.
Welche Rolle spielt der Atomstreit mit dem Iran für die türkisch-europäischen Beziehungen? Gibt es Indizien dafür, dass auch die Türkei anstrebt, eine Atommacht zu werden?
Steinbach : Diese Indizien gibt es noch nicht. Es sei denn, ich hätte etwas überlesen oder überhört. Aber was natürlich im Augenblick immer noch im Raum steht, ist eine mögliche türkische Vermittlerrolle. Es ist ja immer noch der Vorschlag im Raum, dass möglicherweise ein Teil des nuklearen Brennstoffs von Iran an die Türkei oder über die Türkei zur Weiterverarbeitung weitergeleitet wird. Also die Türkei ist zumindest noch im Gespräch als Partner der möglicherweise den Streit deeskalieren könnte.
Im kommenden März werden die nationalen Wahlen im Irak abgehalten. Die Kurden bestehen darauf, dass Kerkuk ein Teil Kurdistans ist, doch die Araber und die Nachbarstaaten sehen darin eine „kurdische Gefahr“.
Wie sehen Sie die Zukunft dieses Problems?
Steht ein Bürgerkrieg bevor?
Welche Rolle spielen die USA in diesem Zusammenhang?
Steinbach : Wenn die Kurden daran festhalten, dass Kerkuk ein Teil des kurdischen föderativen Staates sein wird, dann ist der nächste Konflikt vorprogrammiert. Kein Araber und natürlich auch kein Nachbar wird akzeptieren, dass Kerkuk ein Teil des kurdischen Teils des Irak wird. Da liegt eine ganz große Gefahr für die Existenz der konföderalen oder föderalen Einheit Kurdistans: Wenn die Kurden im Irak ihre Forderungen überziehen, werden sie sich früher oder später auf der Verliererseite wiederfinden. Ich glaube, dass sie jetzt sehr viel erreicht haben, aber um noch mehr zu erreichen, müssen sie sehr behutsam spielen. Sie müssen ihre Forderungen sehr sorgfältig kontrollieren und sie müssen sehr sorgfältig sehen, wie weit sie gehen können. Nicht nur in Bezug auf die Regierung in Bagdad, sondern auch in Bezug auf die Regierungen in Ankara und in Teheran. Auch die Amerikaner haben natürlich ein übergeordnetes Interesse an der Region. Aber auch die Amerikaner, die im Augenblick noch sehr enge Beziehungen zur kurdischen Administration haben im Irak, werden, wenn die Kurden ihre Karten überziehen, auf der kurdischen Seite nicht mehr mitspielen können.
München, 08.01.2010
by Reşad Özkan
Orient Experte Prof. Dr. Udo Steinbach:
"Die Türkei ist in eine Staatskrise geraten"
Kurdische Version lesen
Prof. Dr. Udo Steinbach:
Tirkiye Ketiye Krîzeke Siyasî
............................
Udo Steinbach
Geboren 1943 in Pethau/Zittau, aufgewachsen in Cunewalde bei Bautzen und in Düsseldorf
1963 bis 1965 Wehrdienst
Reserveübungen in der Attachee-Reserve; zuletzt als Oberst d.R. an der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Almaty (Kasachstan)
Studium der Islamkunde (d.h. Studium der Sprachen, Geschichte, Religion sowie Kultur- und Literaturgeschichte des islamischen Raumes arabischer, persischer und türkischer Sprache) und Klassischen Philologie an den Universitäten Freiburg i.Br. und Basel 1965 bis 1970
Promotion zum Dr. phil 1970 bei Professor Dr. Hans-Robert Roemer, Freiburg i.B.
Titel der Arbeit: Dhat al-Himma - Kulturgeschichtliche Untersuchungen zu einem arabischen Volksroman
(veröffentlicht Wiesbaden: Verlag Franz Steiner, 1973)
1971 bis 1974 Leiter des Nahostreferats bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP, Think-Tank der Bundesregierung) damals Ebenhausen bei München
Leiter der türkischen Redaktion der Deutschen Welle 1975
Direktor des Deutschen Orient-Instituts, Hamburg 1976 bis 2006
Seit 1991 Honorarprofessor an der Universität Hamburg
Direktor des GIGA-Instituts für Nahoststudien 2007,
Pensionierung seit 1.1.2008
Gegenwärtig: Lehre am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien an der Philipps-Universität Marburg