28. September 2010

Brauns: Der Wandel kommt heute in Kurdistan von der Masse der Menschen

Interview mit Nikolaus Brauns:      „Ohne Lösung der kurdischen Frage wird es keine demokratische Entwicklung und keine dauerhafte Friedensperspektive für den Mittleren Osten geben“.

< Der deutsche Historiker, Journalist und Kurdistan-Kenner Dr. Nikolaus Brauns hat zusammen mit der Juristin und Autorin Brigitte Kiechle ein umfassendes und gehaltvolles Buch „PKK - Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes: Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam“ geschrieben.

Ein Gespräch mit dem Historiker und Buchautor Nikolaus Brauns über das Buch und die aktuelle Situation in Kurdistan. by Reshad Özkan*

Du hast mit Frauenrechtlerin und Juristin Brigitte Kiechle ein dickes und informatives Buch über Kurdistan geschrieben. In der Einführung des Buches schreibt ihr: „Ohne Lösung der kurdischen Frage wird es keine demokratische Entwicklung und keine dauerhafte Friedensperspektive für den Mittleren Osten geben“. Ist Frieden in Sicht? Wer wird diesen Knoten lösen?

Nikolaus Brauns: Seit dem Ersten Weltkrieg wurde die kurdische Frage von den Großmächten – von Großbritannien, den USA und der EU – dazu genutzt, Einfluss in der Nahostregion zu bekommen. Die Großmächte haben kein Interesse an einer Lösung dieses Knotens. Die Kurden als unterdrückte Nation müssen für eine Lösung ein Bündnis mit den Unterdrückten der Unterdrückernationen suchen. Also mit den persischen, arabischen und türkischen Arbeitern, den Frauen und anderen nationalen Minderheiten in den jeweiligen Kolonialstaaten. Letztlich kann der kurdische Knoten nur von den Menschen im Nahen Osten selber gelöst werden – ohne Einmischung der imperialistischen Mächte. Das Vertrauen in die eigene Kraft und die eigene Organisation muss für die Kurden an erster Stelle stehen, denn von den Großmächten wurden sie immer – von Lausanne 1923 über Mahabad 1947 bis zum Aufstand der Südkurden nach dem Golfkrieg 1991 als Bauernopfer der Weltpolitik zuerst benutzt und dann fallengelassen. Auch Öcalan wurde mit Hilfe der NATO verschleppt. Mollah Mustafa Barzani erklärte 1975: „Es war der größte Fehler meines Lebens, den USA vertraut zu haben.“ Ich hoffe, dass sein Sohn diesen Fehler nicht wiederholt.

Was meint ihr in eurem Buch mit der „grundlegenden gesellschaftlichen Demokratisierung, auf der Basis von weitestgehender Basisbeteiligung und Selbstverwaltungsstrukturen und gleichberechtigter Teilhabe?“

Brauns: Es geht darum, wie der Mittlere Osten so umgestaltet werden kann, dass alle Menschen gleichberechtigten Zugang zu den Reichtümern der Region, zu Wasser, Öl und Gas, erhalten. Es geht darum, wie eine demokratische Perspektive für die Region geschaffen werden kann, jenseits von islamischen und nationalistischen Polizeistaaten aber auch jenseits von der Unterwerfung unter die westlichen Großmächte. Freiheit für die Kurden wird es nur geben, wenn neben der kolonialen Unterdrückung auch der feudale Grundbesitz als Hort der Rückständigkeit abgeschafft und ein Entwicklungsweg jenseits von nachholender kapitalistischer Entwicklung eingeschlagen wird. In Südkurdistan sehen wir, dass eine neoliberale Entwicklung innerhalb einer Autonomie oder Unabhängigkeit nur einigen wenigen zu Gute kommt, während das Land und seine Infrastruktur nicht weiter entwickelt werden.

Welche Auswirkungen hat die kurdische Autonomieregion in Südkurdistan auf die kurdische Befreiungsbewegung?

Brauns: Nach dem Sturz von Saddam Hussein – war die Region Kurdistan für viele Kurden auch in den anderen Staaten eine Hoffnung. Doch inzwischen zeigt sich, dass ein halbautonomer kurdischer Kleinstaat in Wirklichkeit eine Falle für die kurdische Freiheitsbewegung ist. In Südkurdistan herrscht heute eine korrupte Clique. Gegen Oppositionsparteien wie die Liste Goran wird gewaltsam und mit Wahlfälschung vorgegangen. Die Region Kurdistan ist militärisch vollständig abhängig von den USA und wirtschaftlich von der Türkei und dem Iran sowie den Geldern aus Bagdad. Daher schweigt die Regionalregierung zu den Angriffen und Bombardierungen der Türkei und des Iran in den grenznahen Gebieten. Die fortgesetzte Kollaboration von KDP und PUK mit den US-Besatzern führt sogar dazu, dass bei einem Rückzug der USA ein neuer Genozid an den Kurden im Irak droht. Inzwischen wird deshalb innerhalb der Regionalregierung ernsthaft erwogen, die Türkei nach einem Rückzug der USA als neue Schutzmacht ins Land zu holen. Dies geht natürlich zu Lasten der PKK.

Mit welchen Formen des Widerstandes kämpfen die Kurden gegen die Unterdrückung und Besetzung ihres Landes? Kannst du uns die wichtigste Kräfte und Symbolfiguren des Widerstandes nennen?

Brauns: In der Türkei sind die an Abdullah Öcalan orientierten politischen Strömungen nach wie vor die wichtigste Widerstandskraft. Es wird in Europa leider kaum wahrgenommen, dass Öcalan, die PKK und die BDP eigentlich ein identisches Programm zur Lösung der kurdischen Frage vertreten, in dessen Mittelpunkt die Anerkennung der kurdischen Identität in einer demokratischen Verfassung sowie eine stärkere kommunale Selbstverwaltung der kurdischen Region steht. Der Guerillakampf war zum Zeitpunkt von Öcalans Verschleppung bereits als Strategie gescheitert, da die Guerilla durch die Dorfzerstörungen das Hinterland verloren hatte. Doch war es der Armee nicht gelungen, die Guerilla zu vernichten. In diesem militärischen Patt konnten erst die kurdischen zivilen Organisationen wie die HADEP und ihre Nachfolgeparteien entstehen. Insofern war es konsequent, dass die PKK nun dem demokratischen Kampf inklusive den Serhildans die entscheidende Rolle einräumte. Als Ahmet Türk, der ehemalige Vorsitzende der verbotenen DTP, kürzlich in Samsun von einem türkischen Faschisten angegriffen wurde, löste das landesweit ähnliche Proteste aus, wie sonst nur die Mißhandlungen von Öcalan.

Die Türkei hatte im Kalten Krieg für westliche Interessen eine bedeutende geostrategische Rolle gegen Russland gespielt. Welche Rolle in der Region wird sie in Zukunft spielen?

Brauns: Für EU, USA und NATO ist die Geopolitik der Türkei unverändert wertvoll. Die Türkei ist die Brücke in die Nahost- und Kaukasusregion und stellt für die EU-Wirtschaft einen riesigen Markt da. Für USA spielt die Türkei – gerade unter der islamisch-konservativen AKP-Regierung – eine Rolle als trojanisches Pferd in der islamischen Welt. US-Präsident Obama hat im Unterschied zu seinem Vorgänger Bush verstanden, dass ein Krieg gegen den Islam nicht zu gewinnen ist. Daher setzt Obama auf den liberalen – oder besser neoliberalen – Islam als strategischen Verbündeten. Die sogenannte neo-osmanische Politik der AKP trifft sich hier vollständig mit den Interessen von EU und USA. Die Türkei und insbesondere die kurdischen Gebiete sind auch aufgrund der durch sie laufenden oder geplanten Energieleitungen wie der Nabuccoo-Pipeline für Europa von immenser energiepolitischer Bedeutung.

Ist die Türkei reif für einen EU-Beitritt?

Brauns: Die EU ist ein Bündnis des europäischen Großkapitals. Innerhalb der EU werden immer mehr demokratische Rechte abgebaut werden und der Vertrag von Lissabon schreibt eine permanente militärische Aufrüstung vor. Gleichzeitig geht z.B. der EU-Staat Spanien äußerst repressiv gegen die baskische Unabhängigkeitsbewegung vor. Legalen Parteien wie Batasuna, wurden verboten und von der EU ebenso wie die PKK auf ihre Terrorliste gesetzt. Einer solchen EU könnte die Türkei jederzeit beitreten. Allerdings denke ich nicht, dass ein EU-Beitritt im Interesse des türkischen und des kurdischen Volkes ist. Vielmehr würde ein EU-Beitritt zur weiteren Zerstörung der kurdischen Landwirtschaft und zu einer noch stärkeren Militarisierung Kurdistans als EU-Außengrenze führen. Die EU, die momentan europaweit kurdische Politiker verhaften lässt und kurdische Organisationen und Medien wie Roj TV verfolgt und die Türkei mit Waffen hochrüstet, ist Teil des Problems und nicht Teil der Lösung.

Wie wird die Kurdenproblematik in deutschen bzw. westlichen Medien dargestellt? Wie können europäische Medien ihre Öffentlichkeit angemessen - ohne Desinformation - über den Kurdenkonflikt informieren?

Brauns: Leider wird die Kurdenproblematik fast gar nicht thematisiert. Wenn, dann wird unkritisch die Darstellung der türkischen Regierung übernommen. Die Türkei-Korrespondenten der großen Tageszeitungen sitzen meistens in Istanbul und besuchen kaum die kurdischen Landesteile.

In vielen deutschen Medien wird beispielsweise bis heute behauptet, die PKK kämpfe für einen unabhängigen Staat – obwohl dies schon seit 1993 nicht mehr das Ziel ist. Hier kommen Ignoranz, Unwissen, Vorurteile und gezielte Desinformationspolitik zusammen. Aber solange die PKK auch von der EU als terroristisch verfolgt wird, ist hier eine objektive Informationspolitik weder gewünscht noch möglich. Eine Reihe von Buchhändlern hat gegenüber dem Schmetterling Verlag erklärt, sie wollen mein Buch nicht bestellen, weil die PKK verboten und terroristisch ist.
< Tee-Im Guerillacamp

Mit welchen Aktionen gelingt es den Kurden, die Aufmerksamkeit der internationalen Medienöffentlichkeit zu mobilisieren?

Brauns: Leider kommen die Kurden immer nur dann in die großen Medien, wenn sie gewaltsame Aktionen durchführen. Z.B. bei der Entführung der drei deutschen Bergsteiger im Sommer 2008 am Ararat. Wenn dagegen in Amed eine Million Kurden friedlich das Newroz feiern und in Gelsenkirchen 40.000 zu einem Festival anreisen, ist das den Medien in der Regel keine Zeile wert. Aber wenn türkische Soldaten versehentlich auf eine von ihnen selber gelegte Mine treten, wie kürzlich in Cukurca, dann berichten alle Zeitungen über den angeblichen Terror der PKK. Das ist aber nicht die Schuld der Kurden, sondern der tendenziellen und von Kapitalinteressen bestimmten Sichtweise der herrschenden Medien.

Sie Sind ständig als Journalist in Kurdistan unterwegs und berichtest für die Zeitung „Junge Welt“ darüber. Man sieht in den Medien wieder Kriegsbilder, kreisende Kampfflugzeuge über kurdischen Städten , Terror der paramilitärischen Truppen gegen die Zivilbevölkerung, auf dem Boden liegende, blutende Kinder, Zensur und Verbote gegen kurdische Medien, organisierte Angriffe auf kurdische Politiker, z. B. in der Stadt Samsun. Wie sieht die aktuelle Situation aus?

Brauns: Inzwischen ist es mehr als deutlich geworden, dass die AKP mit ihrer „demokratischen Öffnung“ keine wirkliche Lösung der kurdischen Frage im Sinn hat, sondern im Gegenteil darin eine Aufstandsbekämpfungsstrategie sieht. Der AKP geht es darum, mit minimalen kulturellen Zugeständnissen einen Teil der Kurden an den türkischen Staat zu binden und gleichzeitig mit Massenverhaftungen die demokratische kurdische Selbstorganisation, die BDP und Frauenbewegung zu zerschlagen. Gerade bereitet sich die Armee auf eine grenzüberschreitende Großoffensive nach Südkurdistan vor. Und wenn die Verleugnungspolitik der Regierung andauert, besteht die Gefahr, dass ein Teil der kurdischen Jugend unkontrolliert von PKK oder BDP zu Anschlägen übergeht. Schon jetzt fliegen in Istanbul Molotowcocktails auf zivile Busse. Gleichzeitig nehmen faschistische Übergriffe auf Kurden in der Westtürkei zu. Die Perspektive wäre am Ende ein ethnischer Bürgerkrieg zwischen Türken und Kurden, vor dem Öcalan immer gewarnt hat. Die Verantwortung dafür läge allein beim türkischen Staat.

Ihr analysiert in eurem Buch die kurdische Nationalbefreiungsbewegung, besonders die PKK, und die Emanzipation dieser Bewegung. Kann man die kurdische Befreiungsbewegung auch als Teil einer internationalen Bewegung gegen Ausbeutung und Unterdrückung, für Frieden und soziale Gerechtigkeit begreifen? Wie sieht es mit der internationalen Solidarität gegenüber dieser Bewegung aus?

Brauns: Die PKK und die legale kurdische Selbstorganisation haben in den letzten zehn Jahren große Veränderungen durchgemacht hin zu einer modernen linken Bewegung, die Basisdemokratie, Feminismus und Ökologie großschreibt. Die soziale Frage kommt dabei noch zu kurz bzw. wird immer noch wird zu sehr der nationalen Frage untergeordnet. Beispielsweise führt die kurdische Frauenbewegung zwar einen beeindruckenden Kampf gegen feudale Denkweise. Doch erst, wenn eine echte Landreform in Kurdistan durchgeführt wurde und die Aghas auch materiell entmachtet wurden, können die feudalen Strukturen in der Gesellschaft dauerhaft beseitigt werden.


Die internationale Solidarität ist aufgrund von Unkenntnis vieler Linker über den kurdischen Befreiungskampf noch zu gering entwickelt. Wichtig ist es daher, dass die in Deutschland lebenden Kurden sich auch an demokratischen und sozialen Kämpfen in den jeweiligen Ländern teilnehmen, also an den gewerkschaftlichen Kämpfen oder der Friedensbewegung. So würden Kontakte entstehen, Vertrauen aufgebaut und Vorurteile beseitigt werden. Solidarität kann keine Einbahnstraße sein – erst Recht nicht in einer globalisierten Welt.

Kurdische Kinder im Flüchtlingscamp-Mexmur/Südkurdistan-Irak
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    DAS BUCH

„PKK - Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes:
Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam“

Während erstmals im türkischen Parlament über Reformvorschläge der islamisch-konservativen AKP-Regierung zur Eindämmung des kurdischen Aufstandes debattiert wird, gehen Krieg und Verfolgung in den kurdischen Landesteilen der Türkei weiter.

Ohne Einbeziehung der von Türkei, EU und USA als „terroristisch“ eingestuften Arbeiterpartei Kurdistans PKK ist kein Frieden in der Türkei möglich. Und ohne Lösung der kurdischen Frage wird es keine demokratische Entwicklung für den Mittleren Osten geben, meinen Nikolaus Brauns und Brigitte Kiechle in ihrem im Frühjahr erscheinenden Buch «PKK - Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes: Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam».

Die AutorInnen setzten sich ausführlich mit der hierzulande weitgehend unbekannten politischen und programatischen Entwicklung der Arbeiterpartei Kurdistans PKK von den 70er Jahren bis zur Gegenwart auseinander. Dabei gehen sie auch auf die Bedeutung der zivilen kurdischen Selbstorganisation und insbesondere der Frauenbewegung ein. Die Kurdenpolitik der islamisch-konservativen AKP-Regierung von Ministerpräsident Erdogan wird analysiert, nach Chancen und Risiken des EU-Beitrittsprozesses und den Auswirkungen des Neoliberalismus auf die Türkei/Kurdistan gefragt.

Dabei lassen die AutorInnen persönliche Erfahrungen aus ihren Reisen in die kurdischen Landesteile sowie aus Gesprächem mit PolitikerInnen, GuerillakämpferInnen und VertreterInnen von Gewerkschaften, Frauen-, und Menschenrechtsorganisationen in der Türkei und dem Irak einfließen.

Brauns, Nikolaus / Kiechle, Brigitte:
«PKK - Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes:
Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam»

Schmetterling-Verlag Stuttgart
2010. 400 Seiten, kartoniert,
ISBN 978-3-89657-564-7
April 2010

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