"Die Anerkennung der Kurden als eigenständige Migrantengruppe ist politischer Natur. Sie würde Deutschland nützen, weil die kurdische Bevölkerung dann das Gefühl der Anerkennung bekäme; was wiederum die Motivation fördert, sich in die Gesellschaft einzubringen."
Interview
Mehmet Tanriverdi/Foto:Privat |
Mehmed Tanrıverdi studierte Elektrotechnik an der Justus-Liebig-Universität Gießen und ist
seit 2002 Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände e.V.
(BAGIV). Seit 2003 ist er Stadtverordneter in Gießen
und von 1994
bis 2000 war er Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde in Deutschland (KGD) e.V..
Tanrıverdi ist Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande.
Tanrıverdi ist Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande.
Mit Tanriverdi sprach Rûdaw (www.rudaw.net)
Korrespondent Reşad Ozkan über die Deutsch-kurdische Beziehungen und die Integrationsarbeit der
Kurdischen Gemeinde in Deutschland.
Rudaw: Sie sind Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft
der Immigrantenverbände (BAGIV) und gehören zum Präsidium der Kurdischen
Gemeinde in Deutschland; wie sind die Beziehungen zwischen der Deutschen Bundesregierung
und den kurdischen Vereinen?
Mehmed Tanriverdi: Ich muss leider zugeben, dass die
Deutsche Bundesregierung keine offiziellen Beziehung zu Kurden in Deutschland
unterhält. Bis jetzt gab es keine Vereinbarungen mit den Vertretungen der
Kurden in Deutschland. Die Kurdische Community ist zwar in Deutschland schon
lange bekannt, aber eine Anerkennung dieser Gemeinschaft stand nicht auf der
Tagesordnung. Jede Bestrebung und jeder Versuch seitens der Deutsch-Kurden
hinsichtlich einer Anerkennung wurde mit lapidaren Begründungen abgewiesen; wie
zuletzt die Anhörung vor dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages im
Frühjahr letzten Jahres.
Deutschland
ließ sich von seinem Bündnispartner Türkei beeinflussen und die Menschenrechte
der deutschen Bürger fielen den wirtschaftlichen Interessen zum Opfer. Obwohl
Deutschland seit einigen Jahren offiziellen Kontakt zum autonomen kurdischenStaat in Südkurdistan unterhält, in Form eines Konsulats, einer Wirtschaftsvertretung und eines
Goethe-Instituts, muss man dennoch immer wieder auf diesen Widerspruch
hinweise. Das muss sich ändern.
Rudaw: Nach inoffiziellen Angaben leben
in Deutschland circa eine Million Kurden – falls diese Angaben stimmen sollten:
Weshalb werden die Rechte dieser Menschen nicht anerkannt? Weshalb ist
Deutschland nicht bereit, die kurdische Identität anzuerkennen?
Mehmed Tanriverdi: In der Tat ist die kurdische
Gemeinschaft in Deutschland die zweit- oder drittstärkste Migrantengruppe nach
den Einwanderern aus der Türkei und Russland. Offiziell gelten sie als türkische,
irakische, iranische und syrische Staatsbürger. Knapp die Hälfte dieser
Menschen sind deutsche Staatsbürger. Kurden lassen sich eher einbürgern als
türkische Einwanderer. Nicht einmal das wird honoriert. Es geht um
Menschenrechte. Wir haben nicht in allen Bundesländern muttersprachlichen
Unterricht, ein Privileg, das anderen Einwanderergruppen schon längst genießen.
Das gilt auch für den Medien- und den Sozialbereich. Was spricht heutzutage
dagegen, dass eine Rundfunkanstalt wie die Deutsche Welle, die weltweit in allen möglichen Sprachen
sendet, in kurdischer Sprache berichtet? Die
Anerkennung der Kurden als eigenständige Migrantengruppe ist politischer Natur.
Sie würde Deutschland nützen, weil die kurdische Bevölkerung dann das Gefühl
der Anerkennung bekäme; was wiederum die Motivation fördert, sich in die
Gesellschaft einzubringen.
Es ist
im Grunde genommen tragisch, dass die eben schon angesprochenen
wirtschaftlichen Interessen wichtiger sind als die Anliegen von in Deutschland
als deutsche Staatsbürger lebenden Menschen.
Rudaw: Die Kurdische Gemeinde
Deutschlands hat zum ersten Mal an der Kultusministerkonferenz teilgenommen und
im Namen der in Deutschland lebenden Kurden ein Abkommen unterschrieben. Was
sagt das Abkommen über die Zukunft und die Bildungschancen der kurdischen
Kinder in Deutschland aus? Wie soll das umgesetzt werden?
Mehmed Tanriverdi: Bei der ersten allgemeine
Vereinbarung mit der KMK vom Dezember 2007 waren die Kurden nicht dabei, damals
ging es in erster Linie um die Umsetzung des Nationalen Integrationsplans. Bei
diesem aktuellen Abkommen geht es um konkrete Vereinbarungen, um eine Art
Selbstverpflichtung für beide Seiten, das heißt sowohl für die für die Bildung
zuständigen 16 Bundesländer als auch für die Verbände.
Die Bundesländer
und die Schulverwaltungen müssen sich mehr als bisher anstrengen, um die Mittel
und die Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, wir als Verbände müssen in
unserer eigenen Community mit all unseren Möglichkeiten aktiv werden, um die
Elternschaft in den Bildungsprozess einzubeziehen. Es geht für beide Seiten
darum, Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit zu schaffen.
Mehmed Tanriverdi: Meiner Wahrnehmung nach positiv.
Hier geht es um die Stärkung der Kinder kurdischer Abstammung, das heißt um
deren Zukunft. Wer jetzt unterschrieben hat, darf keine Rolle spielen.
Rudaw: Wie sind die Beziehungen der
kurdischen Verbände wie YEK-KOM, KOMKAR und Kurdische Gemeinde Deutschland e.V.
untereinander? Weshalb arbeitet Ihr als Verbände nicht zusammen und weshalb einigt
Ihr Euch nicht, um Eurem Anliegen gegenüber der Bundesregierung mehr Gewicht zu
verleihen?
Mehmed Tanriverdi: Die Kurdische Gemeinde
Deutschland hat nach ihrer Mitglieder- versammlung im April dieses Jahres
zuerst YEK-KOM, danach KOMKAR besucht und genau diese Frage thematisiert. Wir
sind bereit, mit allen kurdischen Vereinen und Verbänden zusammen zu arbeiten;
die politische Orientierung der Vereine darf kein Hindernis für die
Zusammenarbeit darstellen. Der Unterschied zwischen den oben genannten
Verbänden und der KGD ist der, dass die KGD sich auf die Themen und Anliegen
der kurdischen Migranten konzentriert, wohingegen die anderen Verbände sehr
stark heimatorientiert arbeiten und sich von bestimmten politischen Parteien
beeinflussen lassen. Trotzdem sind sie für uns eine Bereicherung und ihr
Einfluss auf die kurdische Community ist nicht zu unterschätzen. Die KGD ist
keine Konkurrenz zu den genannten Verbänden, sie ist vielmehr aus der
Notwendigkeit heraus entstanden, die Pluralität und Vielfalt der kurdischen
Gesellschaft in Deutschland abzubilden.
Früher
oder später werden wir einen Verband haben, in dem sich alle wiederfinden
werden, der für alle sprechen wird.
Tanrıverdi ist Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande. |
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