9. November 2013

BAGIV Präsident Mehmed Tanriverdi:Es geht um Menschenrechte


"Die Anerkennung der Kurden als eigenständige Migrantengruppe ist politischer Natur. Sie würde Deutschland nützen, weil die kurdische Bevölkerung dann das Gefühl der Anerkennung bekäme; was wiederum die Motivation fördert, sich in die Gesellschaft einzubringen."  

Interview
Mehmet Tanriverdi/Foto:Privat
Mehmed Tanrıverdi studierte Elektrotechnik an der Justus-Liebig-Universität Gießen und ist seit 2002 Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände e.V. (BAGIV). Seit 2003 ist er Stadtverordneter in Gießen
und von 1994 bis 2000 war er Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde in Deutschland (KGD) e.V..
Tanrıverdi ist Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande.

Mit Tanriverdi sprach Rûdaw (www.rudaw.net) Korrespondent Reşad Ozkan über die Deutsch-kurdische Beziehungen und die Integrationsarbeit der Kurdischen Gemeinde in Deutschland.

Rudaw: Sie sind Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände (BAGIV) und gehören zum Präsidium der Kurdischen Gemeinde in Deutschland; wie sind die Beziehungen zwischen der Deutschen Bundesregierung und den kurdischen Vereinen?

Mehmed Tanriverdi: Ich muss leider zugeben, dass die Deutsche Bundesregierung keine offiziellen Beziehung zu Kurden in Deutschland unterhält. Bis jetzt gab es keine Vereinbarungen mit den Vertretungen der Kurden in Deutschland. Die Kurdische Community ist zwar in Deutschland schon lange bekannt, aber eine Anerkennung dieser Gemeinschaft stand nicht auf der Tagesordnung. Jede Bestrebung und jeder Versuch seitens der Deutsch-Kurden hinsichtlich einer Anerkennung wurde mit lapidaren Begründungen abgewiesen; wie zuletzt die Anhörung vor dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages im Frühjahr letzten Jahres.
Deutschland ließ sich von seinem Bündnispartner Türkei beeinflussen und die Menschenrechte der deutschen Bürger fielen den wirtschaftlichen Interessen zum Opfer. Obwohl Deutschland seit einigen Jahren offiziellen Kontakt zum autonomen kurdischenStaat in Südkurdistan unterhält, in Form eines Konsulats,  einer Wirtschaftsvertretung und eines Goethe-Instituts, muss man dennoch immer wieder auf diesen Widerspruch hinweise.  Das muss sich ändern.

Rudaw: Nach inoffiziellen Angaben leben in Deutschland circa eine Million Kurden – falls diese Angaben stimmen sollten: Weshalb werden die Rechte dieser Menschen nicht anerkannt? Weshalb ist Deutschland nicht bereit, die kurdische Identität anzuerkennen?

Mehmed Tanriverdi: In der Tat ist die kurdische Gemeinschaft in Deutschland die zweit- oder drittstärkste Migrantengruppe nach den Einwanderern aus der Türkei und Russland. Offiziell gelten sie als türkische, irakische, iranische und syrische Staatsbürger. Knapp die Hälfte dieser Menschen sind deutsche Staatsbürger. Kurden lassen sich eher einbürgern als türkische Einwanderer. Nicht einmal das wird honoriert. Es geht um Menschenrechte. Wir haben nicht in allen Bundesländern muttersprachlichen Unterricht, ein Privileg, das anderen Einwanderergruppen schon längst genießen. Das gilt auch für den Medien- und den Sozialbereich. Was spricht heutzutage dagegen, dass eine Rundfunkanstalt wie die Deutsche Welle,  die weltweit in allen möglichen Sprachen sendet, in kurdischer Sprache berichtet? Die Anerkennung der Kurden als eigenständige Migrantengruppe ist politischer Natur. Sie würde Deutschland nützen, weil die kurdische Bevölkerung dann das Gefühl der Anerkennung bekäme; was wiederum die Motivation fördert, sich in die Gesellschaft einzubringen. 
Es ist im Grunde genommen tragisch, dass die eben schon angesprochenen wirtschaftlichen Interessen wichtiger sind als die Anliegen von in Deutschland als deutsche Staatsbürger lebenden Menschen.

Rudaw: Die Kurdische Gemeinde Deutschlands hat zum ersten Mal an der Kultusministerkonferenz teilgenommen und im Namen der in Deutschland lebenden Kurden ein Abkommen unterschrieben. Was sagt das Abkommen über die Zukunft und die Bildungschancen der kurdischen Kinder in Deutschland aus? Wie soll das umgesetzt werden?

Mehmed Tanriverdi: Bei der ersten allgemeine Vereinbarung mit der KMK vom Dezember 2007 waren die Kurden nicht dabei, damals ging es in erster Linie um die Umsetzung des Nationalen Integrationsplans. Bei diesem aktuellen Abkommen geht es um konkrete Vereinbarungen, um eine Art Selbstverpflichtung für beide Seiten, das heißt sowohl für die für die Bildung zuständigen 16 Bundesländer als auch für die Verbände.
Die Bundesländer und die Schulverwaltungen müssen sich mehr als bisher anstrengen, um die Mittel und die Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, wir als Verbände müssen in unserer eigenen Community mit all unseren Möglichkeiten aktiv werden, um die Elternschaft in den Bildungsprozess einzubeziehen. Es geht für beide Seiten darum, Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit zu schaffen.

Rudaw: Wie reagierten YEK-KOM und KOMKAR, nachdem das Abkommen unterzeichnet wurde?

Mehmed Tanriverdi: Meiner Wahrnehmung nach positiv. Hier geht es um die Stärkung der Kinder kurdischer Abstammung, das heißt um deren Zukunft. Wer jetzt unterschrieben hat, darf keine Rolle spielen.

Rudaw: Wie sind die Beziehungen der kurdischen Verbände wie YEK-KOM, KOMKAR und Kurdische Gemeinde Deutschland e.V. untereinander? Weshalb arbeitet Ihr als Verbände nicht zusammen und weshalb einigt Ihr Euch nicht, um Eurem Anliegen gegenüber der Bundesregierung mehr Gewicht zu verleihen?

Mehmed Tanriverdi: Die Kurdische Gemeinde Deutschland hat nach ihrer Mitglieder- versammlung im April dieses Jahres zuerst YEK-KOM, danach KOMKAR besucht und genau diese Frage thematisiert. Wir sind bereit, mit allen kurdischen Vereinen und Verbänden zusammen zu arbeiten; die politische Orientierung der Vereine darf kein Hindernis für die Zusammenarbeit darstellen. Der Unterschied zwischen den oben genannten Verbänden und der KGD ist der, dass die KGD sich auf die Themen und Anliegen der kurdischen Migranten konzentriert, wohingegen die anderen Verbände sehr stark heimatorientiert arbeiten und sich von bestimmten politischen Parteien beeinflussen lassen. Trotzdem sind sie für uns eine Bereicherung und ihr Einfluss auf die kurdische Community ist nicht zu unterschätzen. Die KGD ist keine Konkurrenz zu den genannten Verbänden, sie ist vielmehr aus der Notwendigkeit heraus entstanden, die Pluralität und Vielfalt der kurdischen Gesellschaft in Deutschland abzubilden.

Früher oder später werden wir einen Verband haben, in dem sich alle wiederfinden werden, der für alle sprechen wird. 
Tanrıverdi ist Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande.
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Kurdische Version
Serokê BAGIVê Tanriverdi:
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